Ansprache
von Bruder Hubert Wachendorf OSB
bei der jüdisch-christlichen Gemeinschaftsfeier am 13. März 2022 in der Konstantin-Basilika, Trier

 

JEDER MENSCH ZÄHLT!

Aus dem Buch Exodus 1, 27

Gott schuf also den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.

Abbild – Ebenbild –  Ungeheure Bilder – eine gewaltige Aussage –

In den alten Religionen waren Götter und Menschen weit voneinander entfernt. Der Abstand war gewollt: Er sollte unüberbrückbar bleiben. Abhängigkeit und devote Verehrung waren den Menschen zugedacht.

In der Zeit, in der unser Vers geschrieben wurde, waren Tempel und Götter allgegenwärtig. Der öffentliche Raum war davon geprägt. Die im Exil lebenden Israeliten hatten das tagtäglich vor Augen. Aber sie haben sich nicht davon beeinflussen lassen. Sie haben in den Texten der Tora ganz andere Töne angeschlagen.

So setzen sie in den Schöpfungserzählungen der Bibel einen unerwarteten Akzent. Gott und Mensch werden zusammen genommen. Für die ersten Hörer war dies mindestens ungewöhnlich, ja unglaublich. Sollte das stimmen?

Gott: und der Mensch sein Bild, ein EBENBILD Gottes. Mann und Frau: Abbild Gottes! Wir haben uns an diese Formulierungen gewöhnt. Die alten Götterhimmel sagen uns heute nichts mehr.

Und doch gibt es noch Gottheiten, und doch gibt es im Alltag Oben und Unten. Wer heute die Gottebenbildlichkeit der Menschen vertritt, muss sie gegebenenfalls verteidigen.

Das Thema der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit zeigt wie bedroht die Vorstellung von der Ebenbildlichkeit des Menschen ist:

JEDER MENSCH ZÄHLT!

Wie soll das gelingen? Das zu ermöglichen ist das Hauptanliegen der Tora. Sie will mit ihren Anregungen helfen, die Menschen vor den Übergriffen ihresgleichen und der falschen Götter zu schützen. Ein kleines Beispiel:

Lev 19,17: Der Lohn des Tagelöhners darf nicht über Nacht bei dir bleiben. Denn: ICH bin der Herr. Auch der kleine Tagelöhner ist Ebenbild Gottes und der garantiert sein Recht auf den täglichen Lohn.

Die Psalmen laden unermüdlich dazu ein, über die Tora, also die Lebensweisungen Gottes nachzusinnen. Wie könnte das im Fall Lev 19 aussehen? Auch jemand, der nie einen Tagelöhner zu bezahlen hatte, sollte sich doch von diesem Wort anregen lassen.

Die Frage könnte dann sein: Was bin ich heute jemandem schuldig? Was darf jemand heute von mir erwarten und nicht erst morgen? Und schon sind wir mitten im Leben. Was wird heute mit recht von mir erwartet und nicht erst irgendwann?

Der wahre Gottesdienst ist biblisch gedacht der rechte und angemessene Umgang mit den Abbildern Gottes. So denken und handeln die „GERECHTEN“. So nennt die Bibel jene Menschen, die tagtäglich versuchen, den Menschen und damit Gott gerecht zu werden.

Es ist an uns, den konkreten Menschen täglich gerecht zu werden. Dann bleibt die biblische Vorstellung, dass die Menschen Gottes Abbilder sind, nicht nebulös und wolkig. Sie sollte geerdet sein und bleiben. Jeder Mensch zählt – so sei es AMEN.